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Reporter ohne Grenzen – Kein Journalist ist in Afghanistan noch sicher

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Wer sich ein Bild davon machen will, was in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban geschieht, ist schlecht beraten, den Worten ihres Sprechers Sabihullah Mujahid zu vertrauen. Man werde keine Rache nehmen, hieß es auf einer Pressekonferenz. Das Gegenteil ist der Fall. Taliban-Kämpfer gehen von Haus zu Haus und suchen nach Menschen.

Das sind nicht nur ehemalige Mitarbeiter der Alliierten und internationaler Organisationen, es sind – auch und gerade – Journalistinnen und Journalisten. Die Häuser von mindestens drei Mitarbeitern der Deutschen Welle seien durchsucht worden, teilte der deutsche Auslandssender am Freitagabend mit. Ein Angehöriger eines DW-Redakteurs wurde erschossen, ein weiterer schwer verletzt. Weitere Mitglieder der Familie des Journalisten, der inzwischen in Deutschland ist, seien „in letzter Sekunde entkommen“ und auf der Flucht.

Die Organisation Reporter ohne Grenzen fasst in einen Satz, worauf dieser Mord und weitere Fälle hindeuten: „Afghanische Journalisten sind nirgendwo im Land mehr sicher.“ „Leider bestätigen sich unsere schlimmsten Befürchtungen: Das brutale Vorgehen der Taliban zeigt, dass unabhängige Medienschaffende in Afghanistan in akuter Lebensgefahr sind und auch ihre Angehörigen nicht verschont werden“, sagte die Vorstandssprecherin von Reporter ohne Grenzen, Katja Gloger. „Nach der Machtübernahme durch die Taliban sind Journalistinnen und Journalisten nirgendwo im Land mehr sicher. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, gefährdeten afghanischen Journalistinnen und Journalisten schnellstmöglich und unbürokratisch die Ausreise zu ermöglichen und Nothilfevisa auszustellen.“

Die Deutsche Welle weist in ihrem Bericht auf einige Opfer der vergangenen Tage hin: Der Journalist Nematullah Hemat von dem privaten Sender Gharghasht TV sei vermutlich von den Taliban entführt worden. Toofan Omar, Leiter des privaten Radiosenders Paktia Ghag Radio, sei von Taliban-Kämpfern gezielt umgebracht worden. Die Fernsehmoderatorin Schabnam Dauran teilte unterdessen mit, sie könne nicht mehr arbeiten. „Mir wurde gesagt, ich könne meine Arbeit nicht fortsetzen, weil sich das System geändert habe“, sagte sie in einer Videobotschaft, aus der die Agentur AFP zitiert: „Wer das hier sieht und wenn die Welt mich hört: Bitte helfen Sie uns, unsere Leben sind in Gefahr.“

Chaos am Flughafen

Am Flughafen in Kabul spielen sich derweil chaotische Szenen ab, Hunderte Menschen warten darauf, aus dem Land zu kommen, längst nicht alle gelangen überhaupt zum Flughafen. Dort kümmern sich die Amerikaner dem Vernehmen nach allein um diejenigen, die sie für die Ausreise in die Freiheit notiert haben, die Bundeswehr ist Zaungast und wird von den Amerikanern beiseitegeschoben, die wenigen Bundeswehrsoldaten dürfen den Flughafen nicht verlassen, nicht einmal um Menschen abzuholen, die direkt vor dem Zaun sitzen und darauf hoffen, nach Deutschland zu kommen.

Von den dramatischen Hilferufen der Afghanen, die für die Deutschen gearbeitet haben, hat Hauptmann Marcus Grotian vom Patenschafts-Netzwerk Afghanische Ortskräfte schon vor Tagen berichtet. Die Mitteilungen aus dem Auswärtigen Amt, das erst vor wenigen Tagen auf die Idee kam, den Botschafter Markus Potzel nach Doha ins Golfemirat Qatar zu schicken, um dort mit den Taliban über die Ausreise gefährdeter Menschen zu verhandeln, sind von Hilflosigkeit geprägt: „Lage am Flughafen Kabul weiterhin gefährlich & volatil. North Gate muss wg. Sicherheitslage immer wieder geschlossen werden. Evakuierungsflüge gehen weiter, haben mit #Bundeswehr inzwischen mehr als 1.600 Menschen ausgeflogen, darunter über 1.000 schutzbedürftige Afghan*innen“.

Das Bild, das die Bundesregierung abgibt, ist derart jämmerlich, dass selbst jemand wie die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die bislang eher mit Plagiaten und leichtgewichtigen Einlassungen auf sich aufmerksam machte, zur außenpolitischen Kritikerin wird. Es sei ein „Desaster“, sagte Baerbock am Donnerstag in der Talkshow von Maybrit Illner im ZDF, „in das wir als Bundesrepublik Deutschland hineingeraten sind, weil ein Auswärtiges Amt, ein Verteidigungsministerium, aber auch eine Kanzlerin und ein Vizekanzler in den letzten Wochen entschieden haben, uns ist es wichtiger, dieses Thema Afghanistan aus dem Wahlkampf herauszuhalten, als Menschenleben zu retten“.

Den Schuh, die Lage in Afghanistan ignoriert zu haben, möchte man an dieser Stelle freilich der gesamten politischen Kaste des Landes anziehen, von der Linken und den Grünen mit ihrer Skepsis gegenüber der Bundeswehr und Auslandseinsätzen über die SPD mit ihrem blassen, überfordert wirkenden Außenminister Heiko Maas bis hin zur Union, aus deren Reihen vor einem neuen Flüchtlingszuzug gewarnt wird.

 

Frauen in Afghanistan : „Mein Leben ist in Gefahr“

Zahlreiche deutsche Medien und Organisationen, darunter die Deutsche Welle, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger BDZV und Reporter ohne Grenzen, haben vor Tagen schon in einem offenen Brief an die Bundesregierung appelliert, Journalisten mit Notvisa auszustatten und vor den Taliban zu retten. „Unsere Berichterstattung, die die deutsche Öffentlichkeit und Politik mit Analysen, Erkenntnissen und Eindrücken aus dem Land versorgt hat“, schreiben die Redaktionen und Organisationen in ihrem an die Bundeskanzlerin und den Bundesaußenminister gerichteten Brief, „war nicht denkbar ohne den Einsatz und den Mut der afghanischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die uns vor Ort unterstützt haben: den lokalen Journalistinnen und Journalisten, Stringern, Übersetzern und Übersetzerinnen.“ Nun sei deren Leben akut in Gefahr, Racheakte der Taliban seien zu befürchten. Dutzende Journalisten seien in den vergangenen Jahren ermordet worden, „von den Taliban, vom ,Islamischen Staat‘, von Unbekannten. Und fast nie hat die Regierung die Täter ermittelt. Es steht zu befürchten, dass solche Morde jetzt dramatisch zunehmen werden – und viele unserer Mitarbeiter sind bedroht.“

Dass die Morde an Menschen, welche die Taliban auf ihren Listen haben oder die sich ihnen widersetzen, zunehmen werden, hat sich schon bewahrheitet. Mag man sich ausmalen, wie die Stimmung der Mitarbeiter der Deutschen Welle in den Paschtu- und Dari-Redaktionen in Bonn und Berlin ist? Ein jeder von ihnen hat Familie in Afghanistan. Tausend vor den Taliban Gerettete sind kein Erfolg. Sie können nur der Anfang einer Rettungsmission sein, von der zu hoffen ist, dass sie nicht mit dem offiziellen Abzug der Amerikaner am 31. August endet. Wer darüber im Wahlkampf nicht reden will, sollte gar nicht zur Bundestagswahl antreten.

 


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