Wer da meint, ein normales Weihnachtsfest sei möglich, verkennt – erst Shutdown, dann Tannenbaum – die Lage. Mathematik nämlich, die zeigt: Familienbesuche sind riskant.
Stille Nacht. In diesem Jahr kann die Liedzeile zwei sehr unterschiedliche Bedeutungen annehmen: Entweder kann sie für ein Corona-Weihnachten stehen, an dem es viel ruhiger zugeht, als es die meisten je erlebt haben. Weil die Menschen in Deutschland an den Feiertagen sogar auf Besuche bei der Familie und engen Verwandten verzichten und das Weihnachtsfest in ihrem eigenen Haushalt verbringen, womöglich einsam. Oder aber für ein Corona-Weihnachten, das für viele Menschen zum letzten ihres Lebens wird, weil sie Anfang 2021 an Covid-19 sterben, nachdem sie sich in engen, schlecht gelüfteten Räumen bei zu langen Besuchen mit Sars-CoV-2 infiziert haben. „Mit Freunden und der Familie zusammen zu sein ist es nicht wert, sie oder sich selbst einem Risiko auszusetzen“, mahnte der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, zu Wochenbeginn.
Am selben Tag hatte die Bundeskanzlerin sich im CDU-Präsidium irritiert über die Alleingänge einiger Bundesländer gezeigt, unter anderem hatte das stark betroffene Sachsen private Hotelaufenthalte zu Weihnachten erlaubt. So geht es also in den Winter: sowohl mit Mahnungen an den Einzelnen als auch mit einer Ahnung von den Grenzen der politischen Kompromissfähigkeit.
Zurück in den Herbst
Ι
Im September stiegen die Infektionszahlen in Deutschland zusehends, auch wenn ihre absolute Höhe trügerisch niedrig erschien. Anfang des Monats lag sie bei knapp über tausend bestätigten Fällen (Tageswert im Durchschnitt von sieben Tagen*) – wenig im Vergleich zu den Spitzenwerten vom Mai und auch wenig, verglichen mit den Nachbarländern. Dass allerdings bei solchen Entwicklungen die Bestandsgröße zweitrangig ist und vor allem die Zuwachsrate zählt, dafür fehlt Menschen das Bauchgefühl.
Frei nach der Legende vom Brahmanen Sissa ibn Dahir
Der bringt das Schachspiel an den Hof eines indischen Herrschers und verlangt zur Belohnung nichts als Reis – wir erinnern uns: Ein Korn aufs erste Feld des Schachbretts, doppelt so viel aufs zweite, wieder doppelt so viel aufs dritte … schon bald ist die Reismenge gigantisch. Ein sich selbst verstärkendes Wachstum kennzeichnet auch ansteckende Krankheiten, denn jeder Infizierte ist ein potenzieller Infizierer. Den Oktober über verdoppelte sich die Zahl der täglichen Corona-Infektionen etwa alle zehn Tage. Längst überragte diese zweite Welle die erste vom Frühjahr.
Als die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung dann Ende Oktober ihren „Corona-Wellenbrecher“ beschlossen, meldete das Robert Koch-Institut schon zehnmal so viele Neuinfektionen als Anfang September. Das war die Hypothek für den November: Zwar konnte der Zuwachs ausgebremst werden, doch der Sieben-Tage-Durchschnitt der Fallzahlen blieb höher, als er im rasanten Oktober gewesen war – so gab es im November mehr positive Testergebnisse pro Tag als im Juni oder Juli pro Monat.
Das war zum ersten Advent der Zwischenstand der zweiten Welle: Die Summe der Menschen, die sich nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert haben, hat die Millionengrenze überschritten. Jeder zweite von ihnen hat sich trotz des Wellenbrechers im November angesteckt.
Das Potenzial für eine Ansteckung ist höher denn je
Verzögert wirkt sich das im Gesundheitssystem aus. Weil einige Zeit vergeht, bevor Menschen mit schweren Symptomen ins Krankenhaus, womöglich auf die Intensivstation kommen, wo sie zuweilen wochenlang behandelt werden oder schlimmstenfalls sterben. Das Risiko für dieses Schicksal ist sehr ungleich verteilt: Bislang sind zwei Drittel der Verstorbenen älter als 70 Jahre, lediglich jeder zwanzigste Tote war jünger als 60 Jahre.
Nur mit diesen Zahlen im Kopf lässt sich die Situation zu Beginn des Winters beurteilen: Das Potenzial für eine Ansteckung, auch für eine unentdeckte, ist höher denn je in dieser Pandemie. Die Verlängerung der Wellenbrecher-Regeln auf die ersten drei Dezemberwochen und die teilweise Verschärfung mögen Schlimmeres verhindern, das Niveau der Neuinfektionen scheinen sie nur langsam zu drücken. Jedenfalls bleiben die Zahlen viel zu hoch für die lückenlose Nachverfolgung.
Zur Erinnerung:
Solange nicht große Mengen Impfstoff verfügbar sind, gilt „Testing und Tracing“ als Königsweg der Seuchenbekämpfung. Als grobes Maß dafür, wie lange die Gesundheitsämter die Ansteckungen nachverfolgen können, wurde der Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche („Sieben-Tage-Inzidenz“) festgelegt. Aktuell liegen aber nur etwa zwei Dutzend von 401 Städten und Landkreisen in Deutschland noch unter dieser Schwelle – und die Hälfte davon bei mehr als doppelt so hohen Werten.
Und wo die Gesundheitsämter nicht mehr hinterherkommen, können sich die Bürger längst nicht mehr darauf verlassen, im Zweifelsfall zügig angerufen zu werden: „Obacht, ein Corona-Positiver hat Sie als engen Kontakt angegeben!“ Wo eine Infektion stattgefunden hat, lässt sich schon seit Langem bei der Mehrzahl nicht mehr feststellen.
Kollektive Unklarheit bedeutet für den Einzelnen:
Er muss überall damit rechnen,
Infizierten zu begegnen, die davon gar nichts wissen.
„Es begab sich aber zu der Zeit“ – dass in vielen Bundesländern die Kontaktbeschränkungen gelockert werden, so werden private Treffen für zehn statt fünf Personen (Kinder unter 14 nicht mitgezählt) erlaubt und Privatleute auf Familienbesuch in Hotels übernachten dürfen. Politisch waren die Lockerungen wahrscheinlich unumgänglich, galt doch seit Oktober die suggestive Parole, der Wellenbrecher sei nötig, damit man Weihnachten feiern könne.
Einladung zum Risiko:
Vor jedem Treffen stellt sich die Frage, wie man sich dabei nicht gegenseitig gefährdet. In einer repräsentativen Umfrage wollte Infratest dimap Ende November von den Bürgern wissen, ob diese „an den Weihnachtsfeiertagen Kontakt zu ihrer Familie oder Besuche einschränken“ würden. Etwa die Hälfte gab an, sich „sehr stark“ oder „stark“ beschränken zu wollen, die andere Hälfte „weniger stark“ oder „gar nicht“. Ihr Verhalten entscheidet darüber, welche Art von stiller Nacht 2020 bringt.
Der Advent birgt eine paradoxe Gleichzeitigkeit
Er steht noch ganz unter dem Eindruck der Rekordzahlen des Novembers. Zu welcher Zuspitzung in den Kliniken sie führen, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Aktuell liegen die Sterbezahlen schon deutlich über dem Höchstwert der ersten Welle, Tendenz steigend. Zugleich geht es längst um den Januar. Denn die letzten Tage von 2020 entscheiden, ob 2021 mit einem weiteren Anstieg beginnt. Sollte sich eine Dynamik à la Oktober abzeichnen, wird eine Debatte über einen harten Lockdown folgen.
Dies alles zusammengenommen ist eine Aufforderung
an jeden mündigen Bürger:
Nicht alles tun, was gerade erlaubt ist.