Zurück in den Herbst

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Im September stiegen die Infektionszahlen in Deutschland zusehends, auch wenn ihre absolute Höhe trügerisch niedrig erschien. Anfang des Monats lag sie bei knapp über tausend bestätigten Fällen (Tageswert im Durchschnitt von sieben Tagen*) – wenig im Vergleich zu den Spitzenwerten vom Mai und auch wenig, verglichen mit den Nachbarländern. Dass allerdings bei solchen Entwicklungen die Bestandsgröße zweitrangig ist und vor allem die Zuwachsrate zählt, dafür fehlt Menschen das Bauchgefühl.

Frei nach der Legende vom Brahmanen Sissa ibn Dahir

Der bringt das Schachspiel an den Hof eines indischen Herrschers und verlangt zur Belohnung nichts als Reis – wir erinnern uns: Ein Korn aufs erste Feld des Schachbretts, doppelt so viel aufs zweite, wieder doppelt so viel aufs dritte … schon bald ist die Reismenge gigantisch. Ein sich selbst verstärkendes Wachstum kennzeichnet auch ansteckende Krankheiten, denn jeder Infizierte ist ein potenzieller Infizierer. Den Oktober über verdoppelte sich die Zahl der täglichen Corona-Infektionen etwa alle zehn Tage. Längst überragte diese zweite Welle die erste vom Frühjahr.

Als die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung dann Ende Oktober ihren „Corona-Wellenbrecher“ beschlossen, meldete das Robert Koch-Institut schon zehnmal so viele Neuinfektionen als Anfang September. Das war die Hypothek für den November: Zwar konnte der Zuwachs ausgebremst werden, doch der Sieben-Tage-Durchschnitt der Fallzahlen blieb höher, als er im rasanten Oktober gewesen war – so gab es im November mehr positive Testergebnisse pro Tag als im Juni oder Juli pro Monat.

Das war zum ersten Advent der Zwischenstand der zweiten Welle: Die Summe der Menschen, die sich nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert haben, hat die Millionengrenze überschritten. Jeder zweite von ihnen hat sich trotz des Wellenbrechers im November angesteckt.

Das Potenzial für eine Ansteckung ist höher denn je

Verzögert wirkt sich das im Gesundheitssystem aus. Weil einige Zeit vergeht, bevor Menschen mit schweren Symptomen ins Krankenhaus, womöglich auf die Intensivstation kommen, wo sie zuweilen wochenlang behandelt werden oder schlimmstenfalls sterben. Das Risiko für dieses Schicksal ist sehr ungleich verteilt: Bislang sind zwei Drittel der Verstorbenen älter als 70 Jahre, lediglich jeder zwanzigste Tote war jünger als 60 Jahre.

Nur mit diesen Zahlen im Kopf lässt sich die Situation zu Beginn des Winters beurteilen: Das Potenzial für eine Ansteckung, auch für eine unentdeckte, ist höher denn je in dieser Pandemie. Die Verlängerung der Wellenbrecher-Regeln auf die ersten drei Dezemberwochen und die teilweise Verschärfung mögen Schlimmeres verhindern, das Niveau der Neuinfektionen scheinen sie nur langsam zu drücken. Jedenfalls bleiben die Zahlen viel zu hoch für die lückenlose Nachverfolgung.

Zur Erinnerung:

Solange nicht große Mengen Impfstoff verfügbar sind, gilt „Testing und Tracing“ als Königsweg der Seuchenbekämpfung. Als grobes Maß dafür, wie lange die Gesundheitsämter die Ansteckungen nachverfolgen können, wurde der Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche („Sieben-Tage-Inzidenz“) festgelegt. Aktuell liegen aber nur etwa zwei Dutzend von 401 Städten und Landkreisen in Deutschland noch unter dieser Schwelle – und die Hälfte davon bei mehr als doppelt so hohen Werten.

Und wo die Gesundheitsämter nicht mehr hinterherkommen, können sich die Bürger längst nicht mehr darauf verlassen, im Zweifelsfall zügig angerufen zu werden: „Obacht, ein Corona-Positiver hat Sie als engen Kontakt angegeben!“ Wo eine Infektion stattgefunden hat, lässt sich schon seit Langem bei der Mehrzahl nicht mehr feststellen.
Kollektive Unklarheit bedeutet für den Einzelnen:
Er muss überall damit rechnen,
Infizierten zu begegnen, die davon gar nichts wissen.