Über Jahrhunderte hin wurde der deutsche Reformator Martin Luther glorifiziert oder verteufelt: Von den Zeitgenossen glorifiziert als Herkules Germanicus, der mit einer mächtigen Keule die hergebrachten Traditionen und überlebten Autoritäten zerschmettert, um dem Neuen den Weg zu bahnen, oder verteufelt als Pestis Germaniae, als die deutsche Pest am Körper der abendländischen Christenheit. Historiker und Politiker des 19. und 20. Jahrhunderts verehrten und monumentalisierten ihn als Urheber nationaler Identität und Freiheit der Deutschen, oder sie – was Wunder – prangerten ihn an als Ahnherrn nationalsozialistischer Verbrechen.
Parallel dazu verlief die wissenschaftliche Erschließung seines Werkes und seiner Biographie: Zahllose Aufsätze und Monographien sowie die große Weimarer Ausgabe seiner gesamten Schriften machen Luther zu einer der am besten erforschten Gestalten der Weltgeschichte.
Ob Glorifizierung, Verteufelung oder wissenschaftliche Objektivierung – eines war und ist diesen traditionellen Luther-Bildern gemeinsam: Sie sehen in der religiösen Existenz und kirchenpolitische Tat des Wittenbergers etwas unerhört Einmaliges, einen weltgeschichtlichen Aufbruch, ohne den die Geschichte Europas ganz anders verlaufen wäre. „Am Anfang war Luther“, auf diese Sentenz ließe sich überspitzt die gängige Deutung der Reformation und ihrer epochesetzenden Wirkungen bringen.
Gegen diese bis in die Reformationszeit selbst zurückzuverfolgende Interpretation hat sich in der jüngeren deutschen Geschichtswissenschaft Widerspruch erhoben. Befreit von konfessionalistischen Erkenntnisinteressen und an strukturgeschichtlichen Fragen und vergleichenden Perspektiven geschult, eröffnete in den siebziger Jahren eine junge Historikergeneration die Debatte um Luther und die reformatorische Wende des 16. Jahrhunderts neu, und zwar in einem radikal ausgeweiteten Horizont.
Nicht um eine Liturgie der deutschen Geschichte geht es, sondern um die europäische, jauniversalgeschichtliche Linie; nicht um isolierte Kirchen- und Konfessionsgeschichte, sondern um Gesamt- oder Gesellschaftsgeschichte; nicht um das zeitlich eng umrissene Ereignis „Reformation“, sondern um den Anteil der religiösen Umbrüche am langfristigen Wandel werdender Modernität im Sinne Max Webers oder Norbert Elias’.
Das Ergebnis dieses Perspektivenwechsels war eine nachgerade revolutionäre Verschiebung im Bild der konfessionellen Traditionen und ihrer Urheber: Nachdem seit der Reformation die Geschichte der europäischen Glaubensgemeinschaften – also des Luthertums, des Calvinismus und Katholizismus, um nur die großen zu nennen – über Jahrhunderte hin als Konkurrenz- und Abgrenzungsgeschichte geschrieben wurde, ist heute das Interesse der Historiker nicht mehr vorrangig auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Konfessionen gerichtet, sondern auf strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten. Das bezieht sich sowohl auf die innerkirchliche Entwicklung als auch auf den Beitrag zu jenem Prozeß gesellschaftlichen Wandels, den wir das Werden der Neuzeit nennen. Dabei geht es um die kulturellen, mentalitätsmäßigen, sozialen und politischen Funktionen von Religion und Konfession innerhalb des sich formierenden frühneuzeitlichen Gesellschaftssystems sowie um die damit verbundenen Impulse oder Hemmnisse für den langfristigen sozialen Wandel, an dessen Ende die bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts stand. g