Unterschlagung, Geldwäsche, Korruption, Betrug: Im Vatikanstaat steht ein spektakuläres Strafverfahren an. Es geht um den Verlust vieler Millionen Euro Kirchengeld. Eines der ältesten Gebete der katholischen Kirche ist das Schuldbekenntnis, das Confiteor. Ursprünglich diente es zur Vorbereitung des Klerus auf die Heilige Messe, später wurde es zum festen Bestandteil des Gottesdienstes und bis heute kennen auch Nicht-Christen daraus zumindest die eine berühmte Formel: „mea culpa“. Trotzdem gesteht auch der Vatikan Schuld ungern ein. Insbesondere dann, wenn es um Verbrechen auf dem Gebiet des Vatikanstaates geht.
Blutigstes Beispiel aus jüngerer Vergangenheit: Am Abend des 4. Mai 1998 betrat eine Ordensfrau die Wohnung des Kommandanten der Schweizergarde nahe der Porta Sant‘Anna, einem der Tore zur Vatikanstadt – und fand drei Leichen: Kommandant Alois Estermann, seine Frau Gladys Meza Romero und Vize-Kommandant Cédric Tornay. Von diesem Augenblick an machte der Vatikan alles falsch. Obwohl der italienische Innenminister Hilfe bei den Ermittlungen anbot und der Vatikan nicht einmal über Experten für Spurensicherung verfügte, lehnte er das Angebot ab. Schlimmer noch: Der Pressechef des Vatikans, Joaquín Navarro-Valls, und der damalige Substitut des Staatssekretariats, Giovanni Battista Re, spazierten durch die Wohnung, ohne dass der Tatort gesichert worden wäre. In einer Pressekonferenz nur anderthalb Tage danach erklärte der Heilige Stuhl den Fall für gelöst: Tornay habe den Kommandanten, dessen Frau und schließlich sich selbst erschossen. Verhandelt wurde die Bluttat nie.
Will der Vatikan diesmal wirklich aufklären?
Nun ist Pignatone Präsident des vatikanischen Tribunals. Zu den zehn Angeklagten gehören neben Kardinal Becciu auch der bis 2019 amtierende Chef der vatikanischen Finanzaufsicht AIF, Tommaso di Ruzza, und dessen Vorgänger, der Schweizer Finanzexperte René Brülhart. Der war noch von Papst Benedikt eingesetzt worden, im Krisenjahr 2012, als die Vatileaks an die Öffentlichkeit gelangten. Die Ermittlungsakten zu dieser Affäre um veruntreute Vatikandokumente, die schließlich im Rücktritt des deutschen Papstes gipfelten, sind bis heute unter Verschluss.
Will der Vatikan diesmal wirklich aufklären? Dann muss Pignatone eine unangenehme Frage stellen: Warum beauftragte Kardinal Becciu, einer der mächtigsten Männer im Staatssekretariat, der als sogenannter Substitut fast täglich mit dem Papst zu tun hatte, ausgerechnet Finanzberater, die nicht nur unprofessionell, sondern kriminell agiert haben sollen? So jedenfalls behauptet es die Anklage.
Die entlarvendste Stelle in der 500 Seiten dicken Anklageschrift, die ZEIT ONLINE vorliegt, findet sich im Einführungsteil: Dort wird betont, das Staatssekretariat, also das oberste Gremium der römischen Kurie, sei kein „qualifizierter Investor“. Obwohl eine staatliche Institution, mangele es dem Management an „finanziellen Fähigkeiten“, weil es aus Prälaten, also Geistlichen bestehe. Bis zum Jahr 2013 habe man keinerlei Erfahrung mit komplexen und riskanten Investments gehabt. Trotzdem investierte und riskierte das Staatssekretariat fleißig. Der Anklage zufolge machte es dabei nicht nur Verluste in dreistelliger Millionenhöhe, sondern es soll zu schweren Vergehen gekommen sein: Unterschlagung, Geldwäsche, Korruption, Betrug. So lauten die wichtigsten Vorwürfe, die sich vor allem gegen externe Vatikanberater richten: einen Banker, einen Fondsmanager, einen Finanzmakler.
Wer ist nun schuld?
Doch was ist mit den Auftraggebern? Die Anklageschrift klingt, als wolle der Vatikan sich vorsorglich damit herausreden, von Geld keine Ahnung gehabt zu haben. Das hinderte die Verantwortlichen jedoch nicht daran, sehr viel Geld, insbesondere Spenden, zu investieren. Offenbar hoffte man, mit Gottes Hilfe dabei verlässlich zu gewinnen. Doch man verlor.
Wer ist nun schuld? Konkret geht es in der Anklage um illustre Aktienfonds und Gesellschaften mit Namen wie Centurion, UK Opportunities, Eurasia Alternative Investments, Sunset Financials und immer wieder: Athena. Der Athena Capital Global Opportunities Fund soll treuhänderisch von der Credit Suisse aufgesetzt worden sein, das Kapital aber habe zu hundert Prozent dem Staatssekretariat des Vatikans gehört – 2013 mit Anteilen von etwa 166,6 Millionen Euro. Als Eigentümer soll seither stets der Kardinal Angelo Becciu unterschrieben haben. Damals war er zwar noch nicht Kardinal, aber schon Substitut des Staatssekretariates, also einer der höchsten Kirchenbeamten überhaupt.
Das Machtbewusstsein, das viele Behörden der römischen Kurie bis heute auszeichnet, kann man noch in der Anklage ablesen, wo Becciu konsequent als „Seine Eminenz“ tituliert wird – obwohl Papst Franziskus ihm bereits im Herbst 2020 die Kardinalsrechte entzog.
Wer den Auftrag zur internen Razzia gab, ist unklar
Sind die Vatikanfinanzen überhaupt reformierbar? Wer Vatileaks erlebt hat und weiß, wie aufwendig Papst Franziskus seit seinem Amtsantritt 2013 um eine Reform der Finanzen ringt, muss bezweifeln, dass diese je vollständig gelingen kann. Wie heikel die Lage bleibt, zeigte sich im Herbst 2019: Damals führte die Gendarmerie des Vatikans mitten in der Nacht eine Razzia im Staatssekretariat und bei der vatikanischen Finanzaufsicht AIF durch. Vorausgegangen war eine Bitte des Kardinalstaatssekretärs Pietro Parolin, rechte Hand von Papst Franziskus, die Vatikanbank möge 150 Millionen Euro bewilligen, um die verlustreiche Investition des Staatssekretariates in eine Londoner Immobilie zu retten. Die hohe Summe erregte jedoch das Misstrauen des Direktors der Vatikanbank, Gian Franco Mammi, der einen Revisor einschaltete und das 150-Millionen-Euro-Darlehen blockierte.
Doch wer gab den Auftrag zur internen Razzia? Das ist bis heute unklar. Die Vermutung liegt nahe, dass sich hier wieder einmal konkurrierende Gruppen im Vatikan gegenseitig bekriegten. Fest steht: Die Razzia selbst war ein solcher Affront, dass der Chef der Gendarmerie, Domenico Giani, der ganz gewiss nicht auf eigene Faust gehandelt hatte, bald nach der Aktion geschasst wurde. Trotzdem dienen die Dokumente, Datenträger und Computer, die Giani beschlagnahmte, nun als Grundlage des großen Strafprozesses.
Wird Kardinal Becciu sagen, was er weiß? Darauf hoffen sie in Italien und davor fürchten sie sich im Vatikan. Denn Becciu gehört noch zur alten Garde der mächtigen Vatikanpolitiker, die die wohl gehüteten Geheimnisse des Heiligen Stuhls und des Vatikanstaates kennen. Auch interessant werden dürfte die Aussage seines langjährigen Sekretärs Mauro Carlino.
Vorwurf der Erpressung
Nicht annähernd so bedeutsam, aber dafür schillernd ist die einzige weibliche Angeklagte, Cecilia Marogna. Sie soll von Becciu begünstigt worden sein (was sie öffentlich bestritten hat) und als „Geheimagentin“ des Vatikans gearbeitet haben (wie sie selbst behauptete). Sie will Kontakt zu Al Kaida gehabt und für den Vatikan Geiseln freigekauft haben. Genüsslich spekuliert die italienische Presse nun seit Monaten über diese „Dame des Kardinals“.
Die konkreten Anschuldigungen gegen Marogna in der Anklageschrift klingen jedoch beinahe banal: So soll sie Geld des Staatssekretariats bei 120 Einkäufen und in Luxushotels ausgegeben haben. Akribisch listet die Anklage Modemarken wie Prada, Missoni und Louis Vuitton auf.
Schon vor Monaten hatte Marogna dazu erklärt, dass sie zwar Geld des Staatssekretariates bekommen und für Luxusartikel ausgegeben habe, nichts daran sei jedoch inkorrekt oder gar illegal gewesen. Um so pikanter wird man in Italien finden, dass die Anklage einen Vermerk der vatikanischen Gendarmerie auflistet: Cecilia Marogna habe von 19.18 Uhr am 16. September 2020 bis 16.18 Uhr am 17. September 2020 im Palast der Glaubenskongregation geweilt. Dort befindet sich die Privatwohnung von Kardinal Becciu. Doch auch gegen das Gerücht, sie habe eine Affäre mit Kardinal Becciu gepflegt, verwahrte sich Marogna bereits öffentlich. Nun muss der Prozess erweisen, wozu man solche anspielungsreichen Vermerke überhaupt braucht.
Dem Bruder 225.000 Euro zugeschanzt?
Was Becciu selbst am meisten belastet, dürfte der Vorwurf der Erpressung sein: Er habe Druck auf einen Mitarbeiter ausgeübt, eine Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft zurückzuziehen. Nach kirchlichen Maßstäben wäre dieses Vergehen umso schwerwiegender, weil Becciu dabei das Gebot des Gehorsams auszunutzen versucht hätte. Zudem soll er 700.000 britische Pfund veruntreut haben, als er sie an die Consortia Directors Limited überwies. Hinzu kommen Vorwürfe des Amtsmissbrauchs. Außerdem soll er seinem Bruder 225.000 Euro zugeschanzt haben. Becciu wollte sich – was Wunder – vor Prozessbeginn nicht zu den Anklagepunkten äußern.
Für den Mega-Prozess stehen im Vatikan nun zwei Räume bereit. Der alte gediegene Gerichtssaal liegt direkt neben der Gendarmerie, wo auch das Gefängnis mit seinen beiden Zellen untergebracht ist. Ein neuer, funktionaler Gerichtsaal wurde in den Vatikanischen Museen vorbereitet. Die Schilder stehen schon. Jedoch wird der Prozessauftakt am kommenden Dienstag im alten Gericht stattfinden. Nur die Anwälte, nicht die Angeklagten werden zugegen sein, um erste Statements zu verlesen. Zuvor hatten die Verteidiger versucht, den Anfang Juli anberaumten ersten Prozesstag ganz zu kippen. Die Dokumente jedenfalls, die sich im Vatikan nach Versendung der Anklageschrift aufgetürmt haben, umfassen mittlerweile 29.000 Seiten. Nun soll die Forderung der Verteidiger nach mehr Vorbereitungszeit erfüllt werden. Am Mittwoch, dem 28. Juli, wird der Tribunal-Direktor Pignatone alle weiteren Verhandlungen auf Oktober verschieben. Von da an soll es bis März 2022 je zwei Anhörungen pro Woche geben.
Die Presse, die auf einen spektakulären Prozessauftakt gehofft hatte, ist dann im Gerichtssaal zunächst nicht vorgesehen.