Bei Ausgrabungen im waadtländischen Avenches wurde 1939 eine wunderbare Goldbüste gefunden: ein Porträt des Kaisers Marc Aurel. Zu seiner Regierungszeit im 2. Jahrhundert n. Chr. war Avenches, damals Aventicum, Hauptort der Helvetier, eine Kolonie römischen Rechts und Garnisonsstadt. Gemacht wurde der sensationelle Fund in einer antiken Kanalisation. Wie war die Büste dorthin gelangt? Wem gehörte sie? Hatte man sie im dritten Jahrhundert bei Einfällen der Alamannen hastig versteckt?
Fragen, die sich nie abschliessend klären lassen. Eine kostbare Goldbüste ist heute im Musée romain von Avenches zu sehen. Zumindest ebenso wertvoll wie sie ist für die Nachwelt die Schrift «Selbstbetrachtungen», deren Autor ganz ohne Zweifel Kaiser Marc Aurel ist. Er verfasste sie fern von Rom an der Donaufront, zum Teil in Carnuntum, dem heutigen Petronell in Niederösterreich.
In den Jahren 172 bis 180 stand Rom im Krieg gegen verschiedene Germanenstämme. Und von 169 bis 190 wütete in der ganzen damals bekannten Welt in mehreren Wellen eine Seuche: Sie wurde später die «Antoninische Pest» genannt, nach dem Gentilnamen des Marcus Aurelius Antoninus. Aufgrund einer genauen Beschreibung der Symptome und des Krankheitsverlaufs durch den berühmten kaiserlichen Hausarzt Galen wissen wir, dass es sich um eine Pockenpandemie gehandelt haben muss.
Damals starben die meisten der von ihr Befallenen. Ganze Landstriche wurden entvölkert. Es gab Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Soldaten. Um die Militärausgaben zu bestreiten, musste Marc Aurel Schätze aus seinem Palast verkaufen. Heute sind die Pocken dank umfassenden und konsequenten Impfungen verschwunden. 1980 hat die Weltgesundheitsorganisation die Welt für frei von dieser Krankheit erklärt.
Denken soll der Mensch
Aus den «Selbstbetrachtungen» geht hervor, dass Marc Aurel Anhänger der stoischen Philosophie war, einer in Athen in der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts entstandenen Denkschule. Als Stoiker war er überzeugt, dass auch Pflanzen und Tiere eine Seele haben. Doch allein den Menschen sei eine «denkende Seele» gegeben. Diese ermögliche ihnen, ein Staatswesen zu gründen. Auch das «leitende Organ», das die Stoiker im Gehirn vermuteten, sei allein den Menschen eigen.
Unermüdlich fordert Marc Aurel sich selber auf, von diesem Organ Gebrauch zu machen und die «denkende Seele» einzusetzen. Nur dann nämlich liessen sich die Menschen nicht von Zorn, Begierde, Angst und Schmerz fortreissen und letztlich zerstören. Immer wieder verweist er auf die Endlichkeit des Lebens und den untrennbar mit ihm verbundenen Tod.
Ein einziges Mal erwähnt er die gerade wütende Pest: «Die Verderbnis der Vernunft ist in einem viel höheren Masse eine Pest als irgendeine derart schlechte Mischung und Veränderung der uns umgebenden Luft.» Er folgt damit der damaligen Lehrmeinung, die Pocken würden durch verdorbene Luft übertragen.
Eine Art von Selbsttherapie
Marc Aurel, der schmächtige Kaiser, hatte keine militärische Erfahrung. Er war kein «Soldatenkaiser». Einer vornehmen Familie entstammend, früh von Kaiser Antoninus Pius adoptiert, genoss er von Kindheit an eine umfassende Bildung mit Schwerpunkten in Rhetorik und Philosophie. Später, an der Front eines grausamen Krieges stehend, schrieb er seine «Selbstbetrachtungen» auf der – damaligen – Weltsprache Griechisch.
Er wandte sich mit seinem Buch nicht an römische Zeitgenossen und auch an keine andere Leserschaft: Er richtete sich schreibend nur an sich selber, als eine Art geistige Übung und Selbsttherapie. Dadurch wird die Schrift zu einem einzigartigen Dokument, das bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Der Text ist oft stichwortartig, wirkt sprunghaft und hastig hingeworfen. Auf kurze Aphorismen folgen längere Passagen. Und immer bleibt der unerschütterliche Glaube spürbar, dass trotz allen Schrecken das Weltganze ein bestens geordneter Kosmos sei.
Werden und Vergehen, Leben und Tod im Kosmos
Darum sollten sich die Menschen vor dem Ende des Lebens nicht fürchten. Er ermahnt sich selber: «Grabe in deinem Inneren. In dir ist die Quelle des Guten und sie kann immer wieder sprudeln, wenn du gräbst.» Hingegen werde zwangsläufig unglücklich, wer die «Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolge». Als Marc Aurel dies schrieb, war der im Jahr 121 n. Chr. geborene Kaiser Anfang fünfzig. Ein beträchtliches Alter für einen Römer jener Zeit.
„Lauter schleimige Kerle“
Die Schrift wirkt bilanzierend wie ein Lebensrückblick. Sie beginnt mit einer Liste des Dankes an alle Menschen, von denen der Autor Gutes erfahren hat: «Ich danke den Göttern, dass ich gute Grosseltern, gute Eltern, eine gute Schwester, gute Lehrer, gute Angehörige, Verwandte und Freunde, ja fast nur gute Menschen um mich hatte.» Sogar dafür ist er dankbar, «dass ich mir meine jugendliche Unschuld bewahrte und nicht vorzeitig zum Mann wurde, sondern mir damit noch etwas Zeit liess».
Er dankt seiner Frau Faustina dafür, dass sie «so hingebungsvoll, so zärtlich, und so unkompliziert» ist. Mit ihr hatte er dreizehn Kinder, von denen nur ein Sohn und eine Tochter die Eltern überleben sollten. Faustina begleitete ihren Mann auch auf einem der Feldzüge. Als sie auf der Rückreise über Kleinasien starb, überführte der Witwer die Urne mit ihrer Asche nach Rom. Dort liess er die Kaiserin in den Rang einer Göttin erheben.
Kritisch richtet sich Marc Aurel gegen das politische Establishment
Schon in frühester Jugend habe er gelernt, dass «die Adligen, die bei uns Patrizier heissen, meist ziemlich lieblos und grausam sind». Und: «Die Ursache des Weltganzen ist ein reissender Strom. Wie nichtig sind doch diese politischen und, wie sie glauben, philosophisch handelnden Menschenkinder, lauter schleimige Kerle. Mensch, was nun?»
Die Menschen lieben, wie sie sind
Auch das Anhäufen von Reichtum und Besitz aller Art erscheint ihm suspekt. Mit den Worten eines Komödiendichters mokiert er sich über Leute, die nicht genug Besitz an sich raffen könnten und vor lauter Überfluss nicht wüssten, «wohin sie scheissen sollen». Dass Marc Aurel nicht vor einer drastischen Ausdrucksweise zurückschreckt, weist ihn auch als Anhänger der Philosophenschule der Kyniker aus, die kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegten. Man könnte sie den linken Flügel der Stoiker nennen.
Doch wie ein roter Faden führt durch die ganze Schrift die Aufforderung an sich selber und andere, die Menschen zu lieben, wie sie halt sind, und mit ihnen solidarisch zu sein. Ja, selbst «die Einfaltspinsel, die ihre Meinung äussern, bevor sie nachdenken», sollen in dieser Liebe eingeschlossen sein. Im Jahr 180 starb der Kaiser auf einem Feldzug in Vindobona, dem heutigen Wien, vermutlich an der nach ihm benannten Krankheit. Seinem Sohn Commodus war nur kurze Zeit an seinem Sterbebett vergönnt. Man fürchtete die Ansteckung.
Renata und Urs Egli
„Zurück zum Logos –
Logos als grundlegendes Prinzip von der antiken Philosophie bis zur heutigen Vernunftdiskussion“
Ein Philosoph als Herrscher: das müsste doch eigentlich eine gute Sache sein, ein weiser, nachdenklicher Mensch als Herrscher über ein Land. Nun reicht die Palette von Platon bis Heidegger: Philosophen, die sich in ihrer politischen Einstellung ziemlich vergaloppiert haben.
Aber, es gibt auch ein positives Beispiel, den römischen Kaiser Marc Aurel, dessen philosophische Schrift „Selbstbetrachtungen“ bis heute auch bei Nichtphilosophen ein ausgesprochen beliebtes Werk ist.